Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, aber mein Gipfelbedürfnis war an diesem Tag extrem groß. Ohne den würde der Tour ihr Abschluss fehlen. Also hetzte ich voran, war am Schnaufen wie bekloppt, die 2800 m Höhe merkte ich. „Aber die 5 Minuten für den Gipfel haben wir noch, oder?“, fragte ich auf der Hälfte des Mergelbands. Dass es hoch und runter sicher 20 Minuten werden würden, brauchte man ja nicht erwähnen. „Ja klar!“, sagte Sybille. Mir hingen allerdings ihre Worte im Kopf, dass sie gerne im Hellen zurück am Wandfuß sein wollte…
Patagonien für Arme
Um 17:45 Uhr standen wir auf dem Gipfel der Freispitze, der Himmel kalt und zerrissen, ein eisiger Wind blies. „Patagonien für Arme ist das“, meinte Sybille.
Wie schnell ich ins Gipfelbuch schmierte, kann man an meiner Schrift sehen. Die Sonne war bereits untergegangen. Die ersten Abseiler fanden wir noch im Hellen, sogar ein blitzender Klebehaken tauchte aus dem Nichts aus. Natürlich erst, nachdem ich mich am alten Schlingenstand festgemacht hatte. In der Scharte ließen sich sogar die 60 m Seil abziehen. Dann wollte ich lieber an einem Bohrhaken mit Schlinge eine schuttige Rinne hinunterseilen, weil ich irgendwie keine Trittspuren über den Kamm sah. Diese sah nach 30 Metern dann aber zunehmend grausig aus, kein weiterer Stand zu sehen, und als der patagonische Sturm zudem Steine in meine Richtung schleuderte, kletterte ich wieder hoch. „Da nicht lang, lass uns doch lieber so gehen wie beschrieben. Vielleicht sind da drüben ja auch Klebehaken…“
„Ja, warten wir noch, bis es dunkel wird, vielleicht, damit du es besser findest…!“ … Zumindest behielt sie ihren Humor.
Also flott über den Mergelgrat, der lief sich besser als gedacht, und im Schein der Lampen tauchte ein großer Block mit noch farbig-neuen Abseilschlingen auf. Wie beschrieben. Für Klebehaken wäre das Gestein eh nicht fest genug gewesen.
„Joah, jetzt ist es richtig dunkel, jetzt passt es wieder“, waren wir uns einig. Das war dann wieder okay.
Das Unangenehmste ist die verrinnende Zeit und das schwindende Licht, kurz vor der einbrechenden Dunkelheit.
„Ob wir noch auf den Gipfel gehen wollen, war das überhaupt eine Frage, oder was?!“, sagte Sybille kurz darauf und schaute mich kopfschüttelnd an. „Sonst hätte ich ja nochmal hergemusst!“
Ich lachte erleichtert auf. „Naja, ich hatte schon Angst, du willst nicht mehr auf den Gipfel! Weil du vorher mal was von Abseilen erwähnt hattest, und dreimal gesagt hast, du willst im Hellen am Wandfuß sein, und ich wusste halt nicht, ob wir im Hellen überhaupt die Abseilstelle noch finden… Aber dann sind wir uns ja einig“, sagte ich grinsend
Der Gipfel musste sein.
Im schwindenden Licht mit grauen Wolkenfetzen hoch über dem Lechtal stehen,
ringsum abweisende Bergspitzen, nicht wissen, was noch vor einem lag, und wohl wissen, dass es noch viele Stunden bis zum Auto waren, das man fast sah, ganz fern im Tal. Wer weiß, ob es vielleicht die letzte Tour war, den Schnee konnte man schon in der Luft riechen.
„Eigentlich find’ ich das ziemlich geil“, sagte Sybille dann später, als wir im Schein der Stirnlampen an der Schafgufel vorbei abstiegen. „Das macht es erst zu einem richtigen Abenteuer.“
Der Schäfer hatte nicht eingeheizt, und Spaghetti Carbonara gab es auch nicht, deswegen lagen noch zweieinhalb Stunden vor uns, bis wir das Auto erreichten.
Der Marder fand das warme Auto wohl auch richtig geil, wie sich am nächsten Morgen herausstellte. Gut, immerhin musste Sybille nicht zum Nachtdienst.
Zur Tour:
Man merkt ihr das späte Erstbegehungsjahr deutlich an. Die erste Seillänge erinnert eher an Süditalien als an eine Pausetour. Ob Pause persönlich sie wohl in sein Buch gelassen hätte? Doch Christoph Klein fand sie wohl wild genug. Vielleicht lag es daran, dass er stundenlang den Einstieg suchen musste? Und abgelegen ist sie schon.
Obenraus wird sie dann doch noch wilder, die geheime Schlüssellänge ist die zweite 4+ mit den Wasserrillen so tief wie Badewannen. Ich muss da irgendwie zu weit links gegangen sein, und stand irgendwann 6 Meter über einer mittelgeilen Sanduhr, keinen einzigen Cam mehr am Gurt. Genau dann fing es an zu regnen. Ich klemmte mit einem Knie in der Wasserrille, chalkte die Hände immer abwechselnd, um der steigenden Feuchtigkeit entgegenzuwirken. Ich setzte fünfmal an, in verschiedene Richtungen weiter zu steigen, aber machte Rückzieher nach Rückzieher. Die Reibung wurde auch nicht besser. Irgendwann beschloss ich, dass ich am besten einfach wartete, bis der Regen aufhörte.
Zum Zeitvertreib legte ich in der Not die erste Knotenschlinge meines Lebens. Nachdem der Regen abgeklungen war, traute ich mich mit der Pseudo-Sicherung unter meinen Füßen endlich, den Zug um die Ecke zu machen, und stand wieder in der richtigen Rinne. Die Knotenschlinge blieb immerhin stecken, bis die Nachsteigerin sie herausholte.
Die Linie wird oben zunehmend klassischer, und die letzten drei Längen versöhnen mit schönen, traditionellen Rissen.
Ich fand die Tour insgesamt recht inhomogen, Simon Eberstadt hingegen findet, das macht sie so richtig abwechslungsreich, und sagt, es sei eine der besten Touren. Lohnenswert und anspruchsvoll ist sie zweifelsohne, vor allem mit ihrer Abgelegenheit, der Fernsicht vom Gipfel und dem schuttigen, dunklen Abstieg. Und solche Wasserrillen hatte noch keine von uns gesehen.
TIPP: Für das Patagonien-Feeling sollte man die Tour aber frühestens Ende Oktober angehen (und für den Abstieg warten, bis das Licht weg ist).