Januar, ein Parkplatz in Osttirol.
Sybille steht neben dem Auto, noch in Jeans und Turnschuhen, gerade dabei, in der Ferne den Eisfall zu identifizieren. Ein Multivan rollt auf den Parkplatz, hält neben ihr. Die Scheibe geht herunter, der Fahrer lehnt sich aus dem Fenster. Mitte 30, farbenfroh gekleidet, 1-2 Löcher in der Daunenjacke, aber nicht mehr als 3, mit runden Flicken geflickt, nicht mit Panzertape, halblange Haare lugen unter der Mütze heraus. Bart natürlich.
„Hey. Bist du Anfänger?“
Sybille lässt das Topo sinken und schaut auf. Sie ist sprachlos. Bei ihr eher selten.
„Hi“, sagt sie, perplex. „Nee, nicht wirklich. Du?“
In dem Moment kommt ihr Kumpel aus dem Gebüsch zurück. Vermeintliches Verständnis macht sich bei Daunenjacke breit. „Ah, bist du mit deinem Freund da?“
„Nee“, sagt Sybille, erneut fehlen ihr die Worte. „Was machst du denn hier, willst du auch Eisklettern?“, gibt sie zurück.
„Ja, scho‘“, sagt er. „Aber ich geh allein. Seid’s ihr auch für das Festival da?“
Der Kumpel ist jetzt da und steigt ins Gespräch ein. Der Zustieg, wie viel Seilschaften vielleicht schon drin sind, die „Condis“.
Sybille geht hinters Auto, sich umziehen, irritiert.
Gab es noch mehr als zwei Optionen? Als Frau war man entweder Anfänger oder stieg dem Freund nach?
Sie packt den Rucksack, während die beiden Männer noch munter weiterplaudern.
„Naja, also, vielleicht sehen wir uns später noch!“ Er hebt die Hand und verschwindet in seinem Multivan, Baujahr maximal 2019.
„Was war das denn?“, sagt sie zum Kumpel und schüttelt den Kopf.
„Was?“ Er schaut verdutzt.
„Na der Typ! Kommt und fragt mich, ‚Bist du Anfänger?‘…“
„Ach, das hat der nicht so gemeint“, meint der Kumpel. „Der wollte nur ins Gespräch kommen.“
„Ja schon, aber was ist das denn für ’ne dumme Frage? Kommt einfach daher und sagt, ‚Bist du Anfänger‘.“
„Jetzt reg dich nicht auf, der war doch ganz nett.“
„Nett? Aber was ist das denn für eine Annahme, ‚Bist du mit deinem Freund hier‘? Als gäbe es nichts anderes!“
„Komm, beruhig dich. Der hat das nur so gesagt. Lass uns klettern gehen!“
Am Einstieg vom Eisfall treffen sie ihn wieder, er ist schon bereit und steigt solo in die erste Länge ein.
„Ordentlich steil, das ist eine Ansage, die erste Länge…“, meint Sybille, macht sich aber dennoch bereit, der Kumpel war dieses Jahr noch nicht so viel im Eis. Am ersten Stand trifft sie auf Daunenjacke, der sie verdutzt begrüßt.
„Na, das hätte ich jetzt nicht gedacht, dass du da als Frau vorsteigst!“
Sie schüttelt den Kopf, verärgert. Langsam reicht es ihr.
„Du, kannst du es mal lassen jetzt? Ja, ich kann das auch. Geht’s noch, eigentlich?“ Er fängt an, zurückzurudern, gut gemacht, dass sie dann doch vorgestiegen sei…
Sie wechseln noch ein paar Worte, aber Sybille ist wortkarg, getroffen.
Er seilt ab, sie klettern weiter.
Am Abend sieht sie einen in der gleichen Daunenjacke, wieder muss sie an den Kerl vom Parkplatz denken. Hätte er sich jemals gewagt, ihren Kumpel so zu begrüßen, wenn sie gerade im Gebüsch gewesen wäre?
Ende März, La Palud-sur-Verdon.
Ich schlendere mit Nico über die Straße, irgendwo gibt es Pizzastückchen umsonst, wir bleiben stehen und kommen mit zwei Typen ins Gespräch, Kategorie Wohnt-schon-länger-im-Bus. Nico, zu meinem Missfallen, erkundigt sich direkt nach der für morgen geplanten Route, ob sie die schon geklettert seien. Ich frage nicht gern andere Leute, auch nicht nach dem Zustieg. Das Finden gehört dazu.
Ja, sagen sie. Ich nutze die Gelegenheit doch und mische mich ein, ob sie ihnen gefallen hat. Ja, sie sei gut. Ich frage, was man für Ausrüstung braucht, haben sie zwei Racks gebraucht oder reicht eins, ich hätte gelesen, die Stände seien ja gebohrt?
Sie antworten Nico, erzählen ihm von der Absicherung. Ich frage genauer, haben sie auch einen 4er dabeigehabt? Sie antworten Nico, wollen ihm erklären, dass er in der einen Länge den 3er besser erst oben legt.
Ich bedanke mich. Er ist gestern mit mir eine seiner ersten Mehrseillängen geklettert.
Sommer 2011, Stüdlhütte am Großglockner.
Melanie ist mit ihrer Freundin, ebenfalls unter 1,60 m, am Großglockner unterwegs, sie wollen den Stüdlgrat gehen. Abends sitzen sie im Gastraum in der Stüdlhütte, der Raum ist voll: Nur Bergführer und Leute, die einen Bergführer engagiert haben. Einer von ihnen kommt auf sie zu.
„Und, was habt ihr zwei vor?“, fragt er.
„Ja, wir wollen halt auch auf den Großglockner hoch“, antwortet Melanie.
Er schaut sie verdutzt an. „Ja, aber… von der Stüdlhütte könnt ihr ja nur den Stüdlgrat hoch. Der Normalweg geht doch von drüben hoch, da müsst ihr rüber auf die Erzherzog-Johann-Hütte“, gibt er zurück. „Da seid ihr hier ja auf der falschen Hütte.“
Melanie guckt ihn ungläubig an. „Ja, wir wollen eigentlich schon auch den Stüdlgrat gehen…“, sagt sie.
Am Tisch herrscht Schweigen.
Oktober, Forstweg bei Garmisch, morgens um 7.
Sybille und ich überholen (mit E-Bikes) zwei Kerle mit normalen Bikes. Wir haben den Kletterhelm auf und die Halbseile über den Rucksäcken.
Es ist steil, ich nicke den beiden nur kurz zu. Sie scheinen keine Kletterausrüstung dabei zu haben. Im Vorbeifahren schnappe ich nur ein einzelnes Wort auf. „Fahrradlkante…“
Wir sind auf dem Weg ins Oberreintal, es hat nachts gefroren, 3°C minus, der erste Schnee liegt bereits. Wir sind wegen eines Wettereinbruchs extra aus den Dolomiten hochgefahren und wollen die „Schober“ klettern, um noch einen Pausepunkt zu sammeln. Unterer Schüsselkarturm Nordwand. Es ist zwar kalt, klar, die Route ist Nord, aber es wird schon gehen. Am Einstieg sind nach zehn Minuten Zeug Sortieren die Finger gefroren. Die erste Seillänge ist direkt steil, die Risse sind kalt, manche Griffe halb nass, halb vereist. Auf den Bändern liegt überfrorener Schnee, ganz schlecht mit Kletterschuhen. Ich brauche 45 min für die 45 Meter, alle anderthalb muss ich stehenbleiben, um die Finger am Hals aufzutauen, damit ich etwas spüre. Sybille steigt mit Handschuhen nach und tänzelt um die Ecke. Sie guckt mich an. „Es wird schon gehen“, sage ich. „Die erste ist immer die schlimmste.“
„Alles klar, dann allez, Alba“, sagt sie, und hängt mir Exen und Cams an den Gurt.
Die zweite Länge läuft dann schon besser, die Finger nicht mehr ganz so steifgefroren. Ich komme langsam in den Flow.
Die Route ist fantastisch, immer wieder Henkel, steile Kletterei, eingebohrt, aber nicht Plaisir. Wir frieren gar nicht sehr und sind begeistert. Ich gebe alles, aber es dauert. In den Ausstiegslängen dann wieder Schnee, und beim Abseilen auf der Nordostseite müssen wir erfinderisch sein, um in dem mit Eis überzogenen Fels den sicheren Wandfuß zu erreichen. Danach im Sprint zurück zu den Bikes.
„Fahrradlkante“ ist eine der leichtesten Routen im Oberreintal, eine Kantenkletterei auf den Oberreintalturm, überwiegend 3-4. Jetzt kann ich ja mit einem einzelnen Wort auch viel in eine Konversation hineininterpretieren. Aber warum ist es dieser Routenname, der fällt?
Warum ist der erste Schluss, wenn zwei Kerle zwei Frauen auf dem Weg ins Oberreintal antreffen, „Fahrradlkante“? Warum nicht „Ois Tschikago“, oder „Heidi“?
Was hätte man wohl aufgeschnappt, wenn zwei Jungs die beiden überholt hätten?
Vielleicht gar keinen Routennamen, vielleicht nur ein Servus, wahrscheinlich einen Spruch wegen der E-Bikes. Auf jeden Fall nicht Fahrradlkante.
Nicht falsch verstehen: Ich liebe Männer. Tatsächlich mehr als Frauen. In der Tat gehe ich im Allgemeinen lieber mit Männern klettern.
Aber es ist diese oft scheinbar fehlende Reflexion, die geschlechtsspezifische Ansprache, der im Fall „weiblich“ immer wieder die Annahme zu Grunde zu liegen scheint, die Angesprochene sei weniger stark. Oder würde sicher eine Plaisirroute klettern wollen, sei Anfänger(in), oder eben mit dem Freund da. Der dann ja sicher alles vorsteigt.
Das Problem, das ist das Traurige, man kann diese Annahmen gar nicht verurteilen, da sie wohl zu über 80 % stimmen. Aber vielleicht werden sie noch länger stimmen, wenn sich diese generelle Interpretation hält. Also nächstes Mal, wenn ihr eine Frau seht, sprecht sie doch mal so an, als wäre sie ein Kerl. Sprecht sie so an, als wäre sie vielleicht vorgestern den Walkerpfeiler solo geklettert, denn ihr wisst nicht, dass es nicht so ist. Auch wenn sie schmal, klein, zierlich und süß ist oder eine pinke Daunenjacke trägt.